Hohe Arbeitslosenquote trotz Fachkräftemangel. Qualifikation ist der Schlüssel
zuletzt aktualisiert: 17. December 2025
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Wir leben in paradoxen Zeiten: Während Unternehmen händeringend nach Fachkräften suchen, steigt die Zahl der Erwerbslosen. Wie passt das zusammen? Das Problem ist kein Mangel an Menschen, sondern ein Mangel an passenden Qualifikationen. Bestehende Weiterbildungsangebote allein lösen das Problem offensichtlich nicht. Das Working Paper »Chief Qualification Officers (CQOs) und betriebliche Weiterbildungsbeauftragte« von Georg Rainer Hofmann und Percy Scheidler schlägt daher einen neuen, konsequenten Weg vor: In jedem Betrieb soll es eine verantwortliche Person für die Qualifizierung der gesamten Belegschaft geben – den Chief Qualification Officer. Ein Konzept für Arbeitsplatzsicherung, mehr Gerechtigkeit und eine zukunftsfeste Wirtschaft.

Das Wichtigste in Kürze
Das Problem: Deutschland leidet gleichzeitig unter Fachkräftemangel und Arbeitslosigkeit. Das liegt nicht an zu wenigen Menschen, sondern an fehlenden oder veralteten Qualifikationen.
Die Analyse: Der freie Markt für Weiterbildung versagt. Angebote werden aus verschiedenen Gründen (z. B. Unwissen, Zukunftsangst, falsches Spardenken) nicht ausreichend genutzt.
Die Lösung: Betriebe sollen strategisch »Kümmernde« für Weiterbildung einsetzen: sogenannte Chief Qualification Officers (CQOs). Sie organisieren Qualifizierung systematisch für die gesamte Belegschaft.
Das Ziel: Arbeitsplätze sichern, Unternehmen wettbewerbsfähig machen und die Transformation der Arbeitswelt für alle fair gestalten.
Das Phänomen: Fachkräfte fehlen, Arbeitslose gibt es trotzdem
Die Klage ist allgegenwärtig. Im Juli 2023 gaben 43,1 % der deutschen Unternehmen an, unter Engpässen bei qualifizierten Arbeitskräften zu leiden. Aufträge können nicht angenommen, Dienstleistungen nicht erbracht werden. Gleichzeitig aber steigt die Zahl der Erwerbslosen, vor allem bei Menschen mit geringer oder keiner formalen Qualifikation. Acht von zehn offenen Stellen richten sich an gut ausgebildete Fachkräfte, doch viele Arbeitssuchende können diese Anforderungen nicht erfüllen.
Dieses Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage lähmt unsere Wirtschaft und verfestigt soziale Ungleichheit. Doch die oft genannten Gründe wie der demografische Wandel greifen zu kurz. Deutschland hat nicht zu wenige Menschen – es hat zu viele Menschen, deren Fähigkeiten nicht mehr zu den Anforderungen der modernen Arbeitswelt passen. Die Autoren des Working Papers formulieren es unmissverständlich:
»Der in Deutschland beklagte Mangel an Fachkräften resultiert nicht aus einem Mangel an arbeitsfähigen Personen, sondern er resultiert aus dem Defizit von deren Qualifikation.«
Einfach immer neue Ausbildungsberufe und Studiengänge zu erfinden, hat sich als Irrweg erwiesen. Die Dynamik der Transformation ist so hoch, dass heutige Spezialisierungen morgen schon veraltet sein können. Die Lösung liegt also nicht in immer kleinteiligeren Ausbildungsgängen, sondern in einer permanenten, systematischen Weiterqualifizierung der Menschen, die bereits im Arbeitsleben stehen. Doch genau hier liegt das Problem.
43,1 %
der deutschen Firmen klagten Mitte 2023 über einen Mangel an Fachkräften – mit direkten Folgen für ihre Leistungsfähigkeit.
8 von 10
offenen Stellen richten sich an Fachkräfte, doch 61 % der Arbeitssuchenden suchen Jobs, für die sie keine spezielle Qualifikation benötigen.
Über 21.900
verschiedene Studiengänge gibt es in Deutschland. Doch diese Spezialisierung löst den Fachkräftemangel nicht – permanente Weiterbildung ist der Schlüssel.
Warum der Markt für Weiterbildung versagt
Obwohl es unzählige Weiterbildungsangebote gibt, werden sie nicht ausreichend genutzt. Es ist auch kaum jemand »gegen Weiterbildung« – umgesetzt wird trotzdem nicht. Warum? Die Ökonomie bezeichnet so ein Phänomen als »Marktversagen«: Eine Ressource (hier: Qualifizierung) wird einfach nicht genutzt. Die Gründe dafür sind vielfältig:
Informationsdefizite: Viele Beschäftigte und auch Unternehmen wissen schlicht nicht, welche Weiterbildung es gibt, was sie bräuchten und warum sie dafür Geld ausgeben sollten.
Falscher Konkurrenzgedanke: Frisch qualifizierte Beschäftigte könnten den Arbeitgeber wechseln – und aus Angst davor wird lieber gar keine Weiterbildung unterstützt.
Fehlannahmen: Die eigene Position am Arbeitsmarkt und die eigene Qualifikation werden falsch eingeschätzt. »Ich habe ausgelernt! Wer soll mir noch etwas beibringen können?«
Aufschieberitis: Ohne klaren Fahrplan und konkrete Anreize wird Weiterbildung auf die lange Bank geschoben, bis es zu spät ist.
Die Autoren ziehen einen eindrücklichen historischen Vergleich: die Einführung des Arbeitsschutzes in den 1950er-Jahren. Damals war auch niemand »für mehr Arbeitsunfälle«, aber aus einem ähnlichen Mix aus Sparsamkeit und mangelndem Bewusstsein wurde zu wenig für die Sicherheit getan. Erst als klare Regeln, Berichtspflichten und Beauftragte für Arbeitssicherheit eingeführt wurden, änderte sich die Kultur. Sicherheit wurde zum Standard und zu einem Reputationsfaktor für gute Arbeitgeber. Genau diesen Hebel schlagen die Autoren jetzt für die Weiterbildung vor.
Die Lösung: Chief Qualification Officers als strategische Kümmernde
Wenn der Markt es nicht allein regelt, braucht es eine bewusste Steuerung. Das Kernkonzept des Papiers ist die Etablierung von »Chief Qualification Officers« (CQOs) und Weiterbildungsmentor*innen in den Betrieben. Ihre Aufgabe: die Qualifizierung der gesamten Belegschaft systematisch und strategisch zu organisieren.
Das funktioniert durch eine Kombination aus zwei Richtungen:
Top-down: Der CQO wird von der Unternehmensführung beauftragt und entwickelt eine Gesamtstrategie. Er analysiert, welche Kompetenzen in Zukunft gebraucht werden, erstellt Qualifikationsbilanzen und berichtet regelmäßig über die Fortschritte in einem »Weiterbildungsbericht«.
Bottom-up: In den einzelnen Abteilungen arbeiten Weiterbildungsmentorinnen direkt mit den Kolleg*innen. Sie führen Gespräche, identifizieren individuelle Bedarfe und helfen dabei, die richtigen Angebote zu finden und Hürden abzubauen.
Diese Struktur stellt sicher, dass Weiterbildung kein Zufallsprodukt mehr ist, sondern ein fester Bestandteil der Unternehmens- und Personalentwicklung. Sie wird zur zentralen Aufgabe, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, dem Fachkräftemangel aktiv zu begegnen und den Mitarbeiter*innen echte berufliche Perspektiven zu bieten.
Mehr als nur ein Skill-Update: Weiterbildung als Frage der Gerechtigkeit
Der Ansatz geht weit über reine Personalentwicklung hinaus. Er ist im Kern eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Bislang profitieren von Weiterbildung vor allem diejenigen, die ohnehin schon gut qualifiziert sind. Das Phänomen der »Bildungsferne« setzt sich im Berufsleben fort und vergrößert die Kluft zwischen den Beschäftigten.
Ein systematischer Ansatz wie das CQO-Modell hat das Potenzial, diese Spirale zu durchbrechen. Er zielt darauf ab, alle Mitarbeiter*innen mitzunehmen und Qualifizierung als gemeinsames Projekt zu verstehen.
»Weiterbildung und Qualifikation [sollen] rechtzeitig und im nötigen Umfang allen Beschäftigten ermöglicht werden.«
Hier kommt der Mitbestimmung eine entscheidende Rolle zu. Die enge Zusammenarbeit zwischen CQOs und dem Betriebsrat ist essenziell, um die Bedürfnisse der Belegschaft zu vertreten und sicherzustellen, dass die Maßnahmen fair und transparent sind. So wird Weiterbildung von einer reinen Management-Aufgabe zu einem gelebten Prozess der Teilhabe. Es geht darum, eine Kultur des lebenslangen Lernens zu schaffen, die den Menschen nicht nur neue Fähigkeiten, sondern auch Sicherheit und die Chance gibt, die eigene berufliche Zukunft aktiv zu gestalten.
FAQ – Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Thema
Über die Methodik
Das Working Paper basiert auf einem Konzeptionsprojekt, das von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde. Es handelt sich nicht um eine empirische Studie mit Datenerhebung, sondern um die Entwicklung einer strategischen Leitlinie und eines Handlungsmodells. Initiiert wurde das Projekt im Winter 2023/2024 von der IG Metall Aschaffenburg gemeinsam mit weiteren Gewerkschaften und dem DGB, um konkrete Lösungen für die Herausforderungen der Transformation in den Betrieben zu entwickeln.