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Künstliche Intelligenz, Produktivität und die Arbeit der Zukunft

zuletzt aktualisiert: 17. December 2025

Stefan Lücking begleitet als Referatsleiter in der Hans-Böckler-Stiftung seit vielen Jahren Forschungsprojekte zu Digitalisierung und Arbeit. Im Interview ordnet er Hype und Realität in der aktuellen Debatte um generative Künstliche Intelligenz ein. Die Fragen stellte Lisa Basten (Forschungsstelle "Arbeit der Zukunft").

Porträt von Dr. Stefan Lücking, Leiter des Referats Mitbestimmung im Wandel in der Hans-Böckler-Stiftung
Dr. Stefan Lücking, KI-Experte und Leiter des Referats Mitbestimmung im Wandel in der Hans-Böckler-StiftungStephen Petrat

Was ist neu an den aktuellen Entwicklungen im Bereich Künstlicher Intelligenz?

Neu ist ganz klar, dass die aktuelle KI-Welle, die auf maschinellem Lernen basiert, erst in den letzten Jahren wirklich in den Unternehmen angekommen ist. 2017 hatten die Forschungsprojekte, die wir zu dem Thema gefördert haben, noch Schwierigkeiten, überhaupt Anwendungsfälle zu finden. Das ist heute ganz anders. Inzwischen wird irgendeine Form von KI in nahezu allen Unternehmen eingesetzt. Spätestens seit der Vorstellung von ChatGPT wird viel Standardsoftware mit KI-Modulen ausgestattet und die Einführung findet quasi unbemerkt statt. Die Unternehmen entscheiden kaum noch bewusst über den Einsatz von KI – sie wählen nur noch, ob sie bestimmte Module aktivieren oder nicht.

Was wiederholt sich?

Das wiederkehrende Narrativ großer Beschäftigungseffekte durch neue Technologien. Ein »Spiegel«-Cover von 1964 illustriert das gut: Es zeigt einen Roboter, der uns allen die Arbeit wegnimmt. Solche Warnungen tauchen regelmäßig wieder auf, etwa alle sechs oder sieben Jahre. Aber sie bewahrheiten sich nicht, zumindest nicht in diesem Ausmaß.

Man spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten Produktivitätsparadoxon: Die Digitalisierung ist überall zu erkennen – außer in den Statistiken zur Produktivität. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Produktivität lassen sich nämlich nicht eindeutig messen. Das zieht sich durch die gesamte Technologiegeschichte und liegt unter anderem daran, dass sich – wenn bestimmte Tätigkeiten tatsächlich von einer Maschine übernommen werden – dies nicht unbedingt als Produktivitätssteigerung widerspiegelt, weil dadurch andere Arbeit erzeugt wird.

Generative KI: Quantensprung oder schlicht der nächste Schritt der Digitalisierung?

Die Veränderung ist aktuell wirklich bedeutend. Mit der Veröffentlichung von GPT-3.5 und ChatGPT vor etwa drei Jahren gab es einen echten Durchbruch. Die Modelle sind deutlich leistungsfähiger als jene von vor fünf oder sechs Jahren. Gleichzeitig gibt es allerdings auch viel Marketing. Mein Eindruck ist, dass das Narrativ der Beschleunigung momentan besonders stark gemacht wird. Es wird nicht nur der tatsächliche Fortschritt betont, sondern auch suggeriert, dass die Programme sich dramatisch weiterentwickeln. Das halte ich für übertrieben.

»Was mich stört, ist ein »magisches Denken«: die Vorstellung, dass KI-Modelle wie Menschen agieren und insbesondere bei den Fehlern, die sie produzieren, eigene Absichten verfolgen.«
Stefan Lücking

Oft werden die gleichen Beispiele wiederholt als Durchbruch verkauft oder kleinere Verbesserungen – wie etwa die Fähigkeit, Stimmen mit weniger Daten nachzuahmen – als Sensation dargestellt. Hinzu kommt die Annahme, dass diese Modelle bald qualitative Sprünge machen werden, obwohl sie dazu strukturell gar nicht in der Lage sind. Denn Sprachmodelle funktionieren auf rein syntaktischer Ebene. Sie werden zwar besser darin, Sprache plausibel zu reproduzieren, aber sie »verstehen« nicht, was sie sagen. Die bekannten Fehler verschwinden nicht, im Gegenteil: Sie werden schwieriger zu erkennen, weil die Texte immer überzeugender klingen.

Porträt Lisa Basten, Leitung Forschungsstelle Arbeit der Zukunft
Lisa Basten, Leitung Forschungsstelle »Arbeit der Zukunft«Stephan Pramme

Welche Rolle spielen Sprachmodelle in der industriellen Produktion?

Maschinelles Lernen im Allgemeinen kann in der Produktion durchaus relevant sein, etwa indem Produktionsdaten besser ausgewertet werden. Ein Beispiel sind Sensoren, die frühzeitig Materialfehler oder den Verschleiß von Werkzeugen erkennen. Solche Anwendungsfälle sind aber weniger medienwirksam als Sprachmodelle, weil sie für die breite Öffentlichkeit nicht nutzbar sind. Der aktuelle Innovationsschub bezieht sich vor allem auf produktionsvorbereitende Bereiche, also auf Wissensarbeit – Softwareentwicklung, Forschung und Entwicklung, Büroarbeit.

Führt die Einführung von KI-Anwendungen in diesen wissensintensiven Bereichen denn zur erhofften Effizienzsteigerung?

In unseren aktuellen Forschungsprojekten zu diesen Fragen sehen wir: Effizienzsteigerungen durch KI lassen sich nur realisieren, wenn Prozesse grundlegend neu gedacht werden. Viele Studien zur Ersetzbarkeit von Tätigkeiten durch KI gehen davon aus, dass man Berufe in Aufgaben zerlegen und diese dann einzeln ersetzen kann. Doch so funktionieren Arbeitsprozesse nicht. Berufliche Tätigkeiten lassen sich nicht beliebig in Einzelteile zerlegen und neu zusammensetzen. Wenn man einen Teil automatisiert beziehungsweise durch KI ersetzt, dann muss eigentlich der Gesamtprozess angepasst werden, um Effizienzgewinne zu realisieren und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Andernfalls entsteht nur neue Arbeit und mehr Arbeitsverdichtung.

»Berufliche Tätigkeiten lassen sich nicht beliebig in Einzelteile zerlegen und neu zusammensetzen. Wenn man einen Teil automatisiert beziehungsweise durch KI ersetzt, dann muss eigentlich der Gesamtprozess angepasst werden, um Effizienzgewinne zu realisieren und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Andernfalls entsteht nur neue Arbeit und mehr Arbeitsverdichtung.«
Stefan Lücking

Krasse Beispiele zeigen sich in Forschungsprojekten zur Digitalisierung im Krankenhaus und in der öffentlichen Verwaltung. Aufgrund von Medienbrüchen und nicht funktionierender Technik werden Sachen einfach parallel analog und digital gemacht, was die Arbeit natürlich erschwert. Das hängt auch damit zusammen, dass Prozesse nicht neu gedacht, sondern einfach digital abgebildet werden, wodurch weder Effizienzgewinne realisiert werden noch eine Entlastung der Beschäftigten erreicht wird. Ein Forschungsprojekt, das auf Büroarbeit fokussiert, zeigt sowohl gute als auch schlechte Beispiele beim Einsatz digitaler Technik. Auch hier besteht das Risiko, dass Brüche in den Arbeitsprozessen entstehen und Effizienzgewinne nicht realisiert werden.

Wie schätzt Du die Hoffnung ein, dass Routinetätigkeiten mit dem Ziel automatisiert werden, mehr Zeit für kreative Arbeit zu schaffen?

Da muss man, denke ich, sehr genau hinschauen. Routineaufgaben durch KI-Anwendungen zu erleichtern oder zu ersetzen, kann zwar zu Entlastung führen und auch zu mehr Autonomie in der Arbeit. Andererseits besteht hier aber das Risiko, dass die Beschäftigten unter dem Druck stehen, in ihrem Arbeitsalltag permanent anspruchsvolle Aufgaben zu erledigen, ohne die Entlastung durch Routinearbeit als Abwechslung.

Können weniger qualifizierte Mitarbeitende mit Assistenzsysteme höher qualifizierte Tätigkeiten ausüben?

Das ist die am weitesten verbreitete Form des Einsatzes von KI-Anwendungen: Es wird versucht, hochqualifizierte Tätigkeiten zu ersetzen, indem man geringer qualifizierten Beschäftigten KI-Assistenzsysteme zur Seite stellt. Das passiert zum Beispiel in der Kundenbetreuung im Finanzsektor und führt dort vor allem zu weniger Autonomie und mehr Stress bei den »echten« Kundenbetreuer*innen, die dann nur noch die komplizierten Fälle bekommen, die sie unter Druck und unter standardisierten Vorgaben beraten müssen.

Wie müssen wir die Einführung dieser Technik denken, damit Produktivitätsgewinne auch im Sinne der Beschäftigten realisiert werden können?

Ein zentraler Punkt ist die Unterscheidung zwischen einer High-Road- und einer Low-Road-Strategie. Ich finde die Metapher aufschlussreich, dass KI die Dampfmaschine des 21. Jahrhunderts ist, oder anders ausgedrückt: Das, was die Dampfmaschine mit der körperlichen Arbeit im 19. Jahrhundert gemacht hat, das macht KI jetzt mit Wissensarbeit. Die Dampfmaschine hat nicht nur Arbeit ersetzt, zum Beispiel an den Webstühlen, sondern auch ganz viel neue Arbeit produziert, zum Beispiel schwere körperliche Arbeit im Bergbau und in der Schwerindustrie. Was die Dampfmaschine aber vor allem geleistet hat: Sie hat neue Produktionsprozesse ermöglicht, die mit reiner körperlicher Arbeit oder auch mit der Muskelkraft von Tieren nie zu erreichen gewesen wären. KI sollte, denke ich, ähnlich gedacht werden: Nicht als billigerer Ersatz für menschliche Arbeit, sondern als Erweiterung dessen, was machbar ist. KI kann Dinge ermöglichen, die vorher unmöglich waren, weil sie mit Datenmengen umgehen kann, die für Menschen nicht zugänglich sind.

Die High-Road-Strategie wäre also der Einsatz von KI mit dem Ziel, Neues zu schaffen?

»High Road« meint Innovation, meint qualitativ bessere Produkte und effizientere Produktionsprozesse. Es geht um Produktionsprozesse, die tatsächlich mit besserer Arbeit verbunden sind, mit Entlastung der Beschäftigten, aber auch mit mehr Autonomie und einfach mehr Möglichkeiten für Arbeitnehmer*innen. »Low Road« bedeutet dagegen: KI wird primär eingesetzt, um Kosten zu senken. Arbeitsverdichtung wird genauso in Kauf genommen wie geringere Qualität – etwa wenn man Fehler von generativer KI bewusst in Kauf nimmt, nur um Geld zu sparen.

KI kann nur Produktivitätsgewinne bringen, wenn die Beschäftigten mitmachen. Eine neue Machtressource für Arbeitnehmer*innen?

Ich würde eher sagen, diese Machtressource hat es immer gegeben; sie wird nur bei der Einführung neuer Technologien besonders sichtbar. Der Erfolg der deutschen Industrie beruhte oft darauf, dass das Wissen der Beschäftigten aktiv in technologische Veränderungen eingebunden wurde. Denn wenn neue Anwendungen eingesetzt werden, egal ob es sich jetzt um Maschinen handelt oder um KI-Anwendungen, dann ist das ein komplexer Prozess, der auf das Wissen der Beschäftigten angewiesen ist. Nur sie können Fehler erkennen oder auch Reibungen mit den Prozessen im Unternehmen. Natürlich gibt es auch die Gefahr der Betriebsblindheit, wenn neue Möglichkeiten nicht erkannt werden.

Selbst wenn Beschäftigte gut eingebunden sind, ist damit ja nicht automatisch Entlastung, Arbeitszeitverkürzung oder Weiterbildung verbunden, oder?

Vieles ist einfach eine Frage von Interessengegensätzen. Unternehmen wollen möglichst kostengünstig produzieren, Beschäftigte wünschen sich gute Arbeitsbedingungen und faire Bezahlung. Forderungen wie Arbeitszeitverkürzung entstehen nicht automatisch aus der Digitalisierung – sie müssen politisch und tariflich durchgesetzt werden. Ein interessantes Konzept ist der sogenannte Produktivitätspakt: Beschäftigte fordern Arbeitszeitverkürzung und bieten im Gegenzug an, gemeinsam an effizienteren Prozessen zu arbeiten. Davon profitieren letztlich beide Seiten.

»KI sollte, denke ich, ähnlich gedacht werden: Nicht als billigerer Ersatz für menschliche Arbeit, sondern als Erweiterung dessen, was machbar ist. KI kann Dinge ermöglichen, die vorher unmöglich waren, weil sie mit Datenmengen umgehen kann, die für Menschen nicht zugänglich sind.«
Stefan Lücking

Schaufeln sich Beschäftigte durch ihre Beteiligung am KI-Einsatz langfristig ihr eigenes Grab? Es handelt sich ja um selbstlernende Systeme, die umso besser werden, je besser die Daten sind, die sie füttern.

Diese Sorge gibt es natürlich, aber das Bild vom selbstlernenden System ist auch irreführend. Hinter jedem Machine-Learning-Prozess stehen Menschen, etwa Statistiker*innen oder Ingenieur*innen, und eine Unmenge an Crowdwork. Kurzfristig werden die Veränderungen überschätzt – viele Unternehmen wollen nichts verpassen und setzen überhastet auf generative KI. Das birgt die Gefahr, von wenigen Anbietern abhängig zu werden. Langfristig ist dagegen oft unklar, welche Anwendungen sich wirklich bewähren.

Also sollte man sich erst fragen: Was wollen wir mit KI eigentlich erreichen?

Genau. Natürlich muss man auch experimentieren, aber idealerweise in einem sicheren Rahmen, in einer Art Sandkasten, wo nicht alles sofort produktionsrelevant ist. Mit der Akzeptanz, dass Anwendungen vielleicht anders genutzt werden, als ursprünglich vorgesehen, und mit einem vernünftigen Verständnis dafür, wie KI funktioniert. Das meiste, was zurzeit passiert, ist rein magisches Denken: Man probiert halt irgendwelche Prompts aus und guckt, welche das beste Ergebnis liefern – häufig mit der Vorstellung, man würde tatsächlich mit einer künstlichen Intelligenz kommunizieren, die irgendwie versteht, was sie tut.

Gibt es noch einen Punkt, den du unbedingt ansprechen möchtest?

Ja, die Abhängigkeit von großen US-amerikanischen Tech-Unternehmen. Die allermeisten Prozesse laufen über Server von Amazon, Google oder Microsoft. Selbst da, wo es Alternativen gibt, greifen wir nicht darauf zurück. Für Europa kann die Perspektive nur sein, eigene Wege zu gehen – mit spezialisierten, datensparsamen KI-Anwendungen. Leider fehlen dafür oft die politischen Rahmenbedingungen. Selbst wenn über digitale Souveränität gesprochen wird, fließt das Geld häufig doch wieder an die großen Konzerne. Open-Source-Projekte bleiben unterfinanziert, obwohl sie viel Potenzial hätten.

Über das Interview

Das Interview ist im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen der Hans-Böckler-Stiftung und der Gewerkschaft IGBCE entstanden. In der ersten Jahreshälfte 2025 kamen auf Einladung von Stiftung und Gewerkschaft Kolleg*innen aus Betriebsräten unterschiedlicher Branchen und Unternehmen sowie Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen zusammen. Sie diskutierten in drei Denkwerkstätten zu unterschiedlichen Schwerpunkten ihrer Arbeit unter dem Dach »Neue Perspektiven für die Arbeit der Zukunft«.

Die zentralen Überlegungen und Ergebnisse aus den Denkwerkstätten finden sich in diesem Buch.

Über Stefan Lücking und Lisa Basten