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Opfer und Helden? – Eine Wende-Geschichte aus dem Stahlwerk Hennigsdorf

zuletzt aktualisiert: 18. December 2025

Die Geschichte der ostdeutschen Transformation wird oft in Extremen erzählt: als Erfolgsgeschichte der Einheit oder als Scheitern durch »Abwicklung«. Diese einfachen Narrative prägen die Debatte bis heute und werden von politischen Kräften wie der AfD gezielt genutzt, um einfache Feindbilder zu schaffen. Doch diese Schwarz-Weiß-Malerei verdeckt die vielschichtige Realität. Die Studie von Jakob Warnecke, »Wandel gewerkschaftlicher Praxis im ostdeutschen Betrieb«, bricht diese Verkürzungen auf. Am Beispiel des Stahlwerks Hennigsdorf zeigt sich, wie komplex, widersprüchlich und lehrreich diese Zeit wirklich war. Es ist die Geschichte von Menschen, die in einem Moment tiefster Krise zu Gestalter*innen wurden – und damit heute noch wichtige Lektionen über die Bewältigung von Wandel liefern.

Schauplatz des Wandels: Das Stahlwerk in Hennigsdorf war in den frühen 1990er Jahren ein zentraler Ort des Ringens um die Zukunft ostdeutscher Industrie. Bis heute wird hier Stahl produziert.picture-alliance/ ZB / Reinhard Kaufhold

Das Stahlwerk Hennigsdorf ist ein Mikrokosmos der ostdeutschen Transformationsgeschichte. Hier lässt sich der gesamte Prozess nachzeichnen: von der Krise des DDR-Systems über die demokratische Erneuerung von unten, den ökonomischen Schock der Währungsunion bis zum konfliktreichen Ringen mit der Treuhandanstalt um eine neue Zukunft. Gerade weil die Beschäftigten diesen Prozess nicht nur erlitten, sondern aktiv mitgestaltet haben und das Werk am Ende »überlebt« hat, können hier die Mechanismen, Konflikte und Handlungsspielräume dieser Zeit wie unter einem Brennglas analysiert werden.

»Das Bild, das sich aus dem Aufeinandertreffen ost- und westdeutscher Mentalitäten ergibt, ist vielschichtig und offenbart verschiedene Perspektiven, die über einen bloßen Ost-West-Gegensatz hinausgehen.«
Jakob Warnecke

Der Aufbruch: Die demokratische Erneuerung im Betrieb

Ende der 1980er Jahre war die Unzufriedenheit im Stahlwerk groß. Die Mängel der Planwirtschaft waren im Arbeitsalltag spürbar, und die offizielle Staatsgewerkschaft FDGB agierte als reiner Akteur der SED, unfähig, die Interessen der Beschäftigten zu vertreten. Die friedliche Revolution 1989 veränderte die Spielregeln grundlegend. Die demokratische Energie, die das Land erfasst hatte, machte vor den Werkstoren nicht halt und führte zu einer »Betriebswende«.

»Die ostdeutschen Akteur:innen eigneten sich die in den ostdeutschen Betriebsalltag transferierten westdeutschen Strukturen unter anderen Bedingungen an als in Westdeutschland, und zwar aufgrund von Erfahrungen, Prägungen und Sozialisationen als spezifischen historischen Ressourcen aus DDR-Zeiten.«
Jakob Warnecke

Der Umbruch wurde von der Belegschaft selbst getragen. In einem basisdemokratischen Prozess wurden die alten, von der Partei kontrollierten Gewerkschaftsstrukturen hinterfragt und erneuert. Vertrauensleuteversammlungen, ehemals zahnlose Gremien, wurden zu Orten offener Debatten. Engagierte Mitarbeiter*innen, oft vernetzt mit der lokalen Bürgerbewegung, knüpften Kontakte zu westdeutschen Gewerkschafter*innen, um von deren Erfahrungen zu lernen. Das Ergebnis war die Wahl des ersten Betriebsrats nach westdeutschem Vorbild im Sommer 1990 – die Schaffung einer eigenständigen, legitimen Interessenvertretung, die bald vor ihrer größten Herausforderung stehen sollte.

Die Konfrontation: Ringen mit der Treuhand

Die Währungsunion am 01.06.1990 stürzte das Stahlwerk, wie die meisten DDR-Betriebe, in eine tiefe Krise. Über Nacht brachen die alten Märkte weg, während die Kosten stiegen. Das Werk wurde der Treuhandanstalt unterstellt, die einen schnellen Verkauf an den italienischen Investor Riva anstrebte. Dessen Konzept sah einen massiven Stellenabbau vor: Von ehemals 8.500 Arbeitsplätzen sollten weniger als 1.000 übrig bleiben. Damit wäre das Werk aus der Montanmitbestimmung herausgefallen.

Für die Belegschaft war dies ein inakzeptables Szenario. Als die Treuhand im November 1991 hinter dem Rücken von Betriebsrat und IG Metall die Entscheidung für Riva durchdrücken wollte, sahen die Beschäftigten dies als »Wortbruch«. Ihre Antwort war entschlossen: Sie besetzten ihr eigenes Werk. Fast zwei Wochen lang stand die Produktion still. Es war ein Akt des zivilen Ungehorsams, der den Konflikt auf eine neue Ebene hob und bundesweit bekannt machte.

Dieser Protest war strategisch klug. Er richtete sich nicht nur gegen die Treuhand, sondern mobilisierte die Öffentlichkeit und die Landespolitik. Die IG Metall lieferte dabei die notwendige Infrastruktur, juristische Expertise und die überregionale Vernetzung, die aus einem lokalen Protest eine politische Machtdemonstration machten. Mit Demonstrationen in Potsdam wurde aus einer betrieblichen Auseinandersetzung eine politische Frage über die soziale Gestaltung der deutschen Einheit.

Hennigsdorf als Blaupause: Was sich aus dem Kampf um das Stahlwerk lernen lässt

Der Kampf endete mit einem hart errungenen Kompromiss. Der Verkauf an Riva wurde zwar nicht verhindert, aber die Bedingungen wurden neu verhandelt. Für die vielen Beschäftigten, die ihren Arbeitsplatz verloren, wurde die Gründung einer Beschäftigungsgesellschaft durchgesetzt – ein soziales Netz, das viele vor dem direkten Wechsel in die Arbeitslosigkeit bewahrte. Zudem wurden zentrale Mitbestimmungsrechte, wie die Montanmitbestimmung, für die Zukunft gesichert.

Die Geschichte von Hennigsdorf ist damit weder eine reine Erfolgsgeschichte noch eine Erzählung des Scheiterns. Sie ist eine Geschichte der aktiven Gestaltung unter enormem Druck und zeigt, dass die ostdeutschen Beschäftigten Akteur*innen waren, die mithilfe von Solidarität, Organisation und demokratischer Mitbestimmung um ihre Zukunft rangen. Diese Fähigkeit, Handlungsspielräume zu schaffen, kann auch heute als Vorbild dienen:

  1. Transformation braucht starke Gewerkschaften: Der Fall Hennigsdorf zeigt, dass der Betriebsrat vor Ort nur durch die Rückendeckung und die Ressourcen der übergeordneten IG Metall handlungsfähig war. Die Gewerkschaft agierte als strategischer Partner, der Verhandlungen auf höchster Ebene führte, Proteste organisierte und rechtliche Sicherheit gab. Ohne diese professionelle Struktur wäre der Widerstand kaum erfolgreich gewesen. Das ist eine wichtige Lektion für aktuelle Strukturwandelprozesse, etwa im Zuge der Digitalisierung oder der sozial-ökologischen Transformation.

  2. Mitbestimmung ist ein Machtfaktor: Die hartnäckige Verteidigung der Montanmitbestimmung war kein symbolischer Akt. Sie war der Schlüssel, um auch nach der Privatisierung auf Augenhöhe mit dem neuen Eigentümer verhandeln zu können. Sie sicherte den Arbeitnehmer*innen einen dauerhaften Platz am Tisch der Entscheider*innen.

  3. Zukunft ist verhandelbar: Die Stahlwerker*innen haben bewiesen, dass wirtschaftliche Sachzwänge kein unabwendbares Schicksal sind. Sie haben gezeigt, dass die Entscheidungen von mächtigen Institutionen wie der Treuhand beeinflussbar sind, wenn der Protest klug, mutig und gut organisiert ist. Ein gutes Beispiel, wenn es heute darum geht, vermeintlich alternativlose politische oder wirtschaftliche Entscheidungen kritisch zu hinterfragen.

Podcast Der Kampf um unseren Betrieb hat begonnen – Die Besetzung des Stahlwerks Hennigsdorf

FAQ: Transformation in Ostdeutschland

Über die Methodik

Die Studie von Jakob Warnecke ist eine historische Fallstudie, die auf einer breiten Quellengrundlage beruht. Analysiert wurden Unterlagen aus verschiedenen Archiven, darunter das Brandenburgische Landeshauptarchiv (u.a. Unternehmensakten), das Bundesarchiv (Treuhand-Bestände, Akten des Ministeriums für Staatssicherheit), das Archiv der sozialen Demokratie sowie lokale Archive in Hennigsdorf. Eine weitere wichtige Quelle waren zeitgenössische Zeitungen und Fernsehbeiträge. Ergänzt wurde die Archivalien-Recherche durch narrative Interviews mit zentralen Zeitzeuginnen, vor allem mit ehemaligen und aktiven Betriebsrätinnen und Vertrauensleuten.

Über den Autor der Studie